Kronzeugenregelung – Harmonisierung lässt weiter auf sich warten

Der EuGH hat sich in seiner heutigen Entscheidung “DHL Express”, Az. C-428/14, im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens u.a. mit der Frage befasst, ob ein – umfassenderer – Kronzeugenantrag, der bei der Europäischen Kartellbehörde eingereicht worden war, Wirkung zu Gunsten eines nationalen, konkret in Italien laufenden Verfahren entfaltet, wo vor Ort nur ein – weniger umfänglicher – Kurzantrag gestellt worden war. Die Frage wurde überhaupt virulent, weil man auf EU-Ebene nur einen sachlichen Teil der Selbstanzeige aufgriff und andere unbearbeitet ließ, die dann aber die nationale Behörde in Italien aufgriff. Der dortige Teil war aber nur im EU-Antrag nicht im italienischen Antrag enthalten. Der Sachverhalt ist komplex, weiteres bitte ich dem Urteil zu entnehmen.

Der EuGH sagt dazu in Tz 55 und 56:

Nach Ziff. 38 der Bekanntmachung über die Zusammenarbeit gilt jedoch in Ermangelung eines unionsweiten Systems vollständig harmonisierter Kronzeugenprogramme ein bei einer bestimmten Behörde gestellter Antrag auf Kronzeugenbehandlung nicht als Antrag auf Kronzeugenbehandlung bei einer anderen Behörde. Wie in Rn. 36 des vorliegenden Urteils festgestellt wurde, bestimmt sich nämlich die Behandlung eines Antrags auf Kronzeugenbehandlung nach dem Recht jedes Mitgliedstaats.

Im Hinblick hierauf weist Rn. 1 des ECN-Kronzeugenregelungs-modells darauf hin, dass es im Interesse der Unternehmen liegt, bei allen Wettbewerbsbehörden, die für die Anwendung von Art. 101 AEUV in dem von der Zuwiderhandlung betroffenen Gebiet zuständig sind und gegebenenfalls als gut geeignet angesehen werden, gegen die fragliche Zuwiderhandlung vorzugehen, eine Kronzeugenbehandlung zu beantragen.

Fazit: Jede Selbstanzeige wirkt erstmal nur dort und in dem Umfang, in dem sie bei der jeweiligen Behörde eingereicht wurde oder wie es der 2. Leitsatz der Entscheidung formuliert:

Die Bestimmungen des Unionsrechts, insbesondere Art. 101 AEUV und die Verordnung Nr. 1/2003, sind dahin auszulegen, dass zwischen dem Antrag auf Erlass der Geldbuße, den ein Unternehmen bei der Europäischen Kommission eingereicht hat oder im Begriff ist einzureichen, und dem für dasselbe Kartell bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde eingereichten Kurzantrag kein rechtlicher Zusammenhang besteht, der diese Behörde verpflichtet, den Kurzantrag im Licht des Antrags auf Erlass der Geldbuße zu beurteilen. Ob der Kurzantrag dem bei der Kommission gestellten Antrag inhaltlich genau entspricht oder nicht, ist hierbei ohne Belang.

Ist der inhaltliche Umfang des bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde gestellten Kurzantrags enger als der des bei der Kommission gestellten Antrags auf Erlass der Geldbuße, so ist diese nationale Behörde nicht verpflichtet, die Kommission oder das Unternehmen selbst zu kontaktieren, um sich zu vergewissern, ob dieses Unternehmen das Vorliegen konkreter Beispiele für rechtswidrige Verhaltensweisen auf dem Sektor festgestellt hat, der angeblich vom Antrag auf Erlass der Geldbuße, nicht aber vom Kurzantrag umfasst ist.

Da ist noch ein Stück Weg bis zur vollständigen Harmonisierung!